Spielfeld
des Verstehens:
Durchdeklinieren
von Raum, Sprache und Bedeutung
Als ich Nico Pachalis Arbeiten zum ersten Mal im Original gesehen habe, kamen mir seine gezeichneten, geklebten und gefalteten Objekte wie radikale Verweigerungsgesten vor. Die Wände des Raumes blieben unberührt weiß, während sich seine Installation auf dem Boden ausbreitete und ihn fast vollständig bedeckte. Ich habe damals Fotos von diesem Raum gemacht, die auch heute noch meinen ersten Eindruck von Pachalis Arbeit wiedergeben. Die meisten Bilder zeigen nämlich nicht den Raum und damit die Begrenzungen oder die Abgeschlossenheit der Bodenarbeit, sondern sie zeigen Details: als hätte ich festhalten wollen, dass es unendlich so weitergehen könnte, als sei dies nur ein kleiner Ausschnitt eines schier endlosen Feldes, ein Work in Progress. Zu dieser Zeit habe ich wohl bereits einige wichtige Aspekte der von Pachali bespielten und kreierten ‚Fields‘ und ‚Spaces‘ und ‚Handlungsstücke‘ und ‚Exercises‘ intuitiv verstanden, um schon mal einige seiner eigenen Formulierungen aufzugreifen. Etwa die Idee, dass es nicht darum geht, etwas genau zu verstehen, sondern vielmehr um das Verstehen-Wollen, um das Fragen, Suchen, Analysieren, Trainieren und Spielen als Ausdruck der Sehnsucht, eine Bedeutung zu erkennen.
Auf einem anderen Foto steht der Künstler inmitten seines Werkes, das sich wie eine eigene Welt mit eigenen Regeln vor ihm aufspannt – inmitten seiner Zeichnungen, die den Boden bedecken. Er kratzt sich gerade am Kopf, so als denke er darüber nach, wie er das Ganze eigentlich einzuordnen hat. Das erinnert mich an etwas, das Nico Pachali mir einmal im Gespräch erzählt hat, nämlich dass er sich manchmal so vorkomme wie ein Archäologe, der eine Zeichnung von einer Ausgrabungsstätte macht und sich etwas dazu notiert. Die Ausgrabungsstätte ist seine eigene Arbeit. Ist das nicht ein treffendes Sinnbild für das Kunstschaffen als einer permanenten Beschäftigung mit der Frage, warum man das eigentlich macht?
„Der Raum ist ein Zweifel: ich muß ihn unaufhörlich abstecken, ihn bezeichnen; er gehört niemals mir, er wird mir nie gegeben, ich muß ihn erobern“ schrieb Georges Perec und drückte damit den Wunsch nach der Greifbarkeit des Ungreifbaren aus, der auch Pachali umzutreiben scheint.
Doch auch als Betrachterin finde ich mich in der Rolle einer Archäologin oder Entdeckerin wieder. Pachalis Arbeiten sind in gutem Sinne kryptisch; sie wirken verschlüsselt und sind mit Spuren aus Wörtern und grafischen Formen versehen, die Hinweise geben, aber keine klaren Lösungen bereithalten. Es ist eine Arbeit, die man nicht einfach nur betrachtet, sondern erlebt. Manchmal fühlt es sich an wie ein endloses Spiel, das spürbar macht, wie die Sehnsucht nach Bedeutung umso stärker wird, je unerfüllter sie bleibt. Damit gelingt es ihm, ein prägendes Gegenwartsgefühl zu beschreiben, nämlich eine gewisse Melancholie und Verzweiflung angesichts der Unfähigkeit, die Welt (soziale, gesellschaftliche, politische Ereignisse) zu begreifen.
Nico Pachalis Auseinandersetzung mit dem Bedürfnis nach Verstehen bei gleichzeitigem Unvermögen macht auch vor der Sprache nicht halt. Mehr noch: Sprache ist ein elementarer Bestandteil seiner künstlerischen Praxis, die nicht zuletzt darin besteht, eigene Terminologien zu entwickeln, diese zu variieren und immer wieder neu zu kontextualisieren. In dem Titel seiner Ausstellung, „BODY DECLINATION“, klingt das ebenfalls an: Vorhandene Wörter, aber auch Körper, Skulpturen, Zeichnungen, werden gebeugt, so lange, bis sie regelrecht durchdekliniert sind. Es drückt sich eine gewisse Obsession darin aus, Dinge immer wieder neu zu erproben. Das Deklinieren erfolgt dabei auf extrem assoziative Weise: „body declination“, „body progression“, „progression“, „regression“, „to regress“, „to decline“, kann man etwa auf einer Zeichnung lesen. Teilweise sind die Wörter durch Pfeile miteinander in Beziehung gesetzt – und hier sind sie wieder, die subtilen Hinweise auf Verbindungen, die man nicht zu hundert Prozent nachvollziehen kann und auch nicht nachvollziehen soll. Man kann sich dann schon einmal fühlen wie die "Confused Lady" aus dem gleichnamigen Meme, als würden sich die Gedanken verknoten – zumindest geht es mir so.
Assoziieren bedeutet, Verknüpfungen herzustellen. Das ist ein Grundmechanismus des kreativen Denkens, und ich glaube, dass Nico Pachali diesen Mechanismus ständig provoziert. Der Philosoph Lambert Wiesing hat die Beobachtung gemacht, dass das Erlebnis, Assoziationen zu haben, unausweichlich mit dem Erlebnis verbunden ist, ein Individuum zu sein – und umgekehrt. Er meint damit: In den Momenten, in denen man eine Assoziation hat, erlebt man sich selbst als ein spezifisches, besonderes Subjekt. Das ist eine Erfahrung, die man in der Begegnung mit den roten Zeichnungen, transparenten Objekten und gefalteten Installationen ständig macht.
Pachalis eigene Assoziationen kommen häufig aus dem Bereich des Sports. Das Wort Field ist teilweise von Spielfeldern hergeleitet und findet als abstrahierte Form immer wieder den Weg in seine Arbeit. Auf manchen seiner Sprachobjekte kann man auch „Playbook“ lesen. Im American Football bezieht sich der Begriff auf ein umfassendes Dokument oder eine Sammlung von Spielzügen und Strategien, die von einem Team entwickelt und genutzt werden. Es ist ein zentrales Instrument für die Kommunikation und Koordination zwischen den Spielern, Trainern und anderen Teammitgliedern. Fraglos ist Pachali nicht nur von den Terminologien, sondern auch formal von solchen Playbooks inspiriert, davon, wie die Schrift gesetzt ist, wie Bereiche in Zeichnungen aufgeteilt und Spielerpositionen erklärt werden.
Überhaupt können viele Eigenschaften von Sportarten wie Baseball oder Fußball auch in Pachalis Arbeit wiedergefunden werden. Das Repetitive der immergleichen Spielabläufe ist auch seinen Zeichnungen und dem wiederholten Kleben und Falten und Arrangieren zueigen. Doch was auf den ersten Blick als bloße Wiederholung erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als hochspannende Variation im Detail. Mir kam es immer so vor, als sei der Boden Pachalis Leinwand, das Feld seine Grundierung. Darauf lässt er dann immer wieder neue Formationen entstehen – richtig: wie auf dem Spielfeld. Und wie im Sport geht es ihm um Bewegung, Movement, Weiterentwicklung, Progression, aber auch unvermeidliche Regression.
Als eine Verweigerungsgeste verstehe ich die Arbeit von Nico Pachali auch jetzt noch. Aber nicht mehr unbedingt als Verweigerung, den Erwartungen von Kunst- und Ausstellungskonventionen zu entsprechen, sondern vielmehr als Verweigerung, Werke als abgeschlossen anzusehen. Seine Arbeit zeigt, dass der Body – wie das Verstehen – zwar Grenzen kennt, aber zugleich durchlässig und veränderbar ist. Wie unsere Haut, an die die von Pachali fast schon exzessiv benutzte PVC-Folie manchmal erinnert.
Annekathrin Kohout